Bin mal wieder mit dem Regionalexpress Richtung Trier unterwegs. Eine Eifelrunde durch Oberbettingen, Niederbettingen und das Bolsdorfer Tälchen war geplant. Kurz vor Gerolstein, in der Nähe von Hillesheim, liegt der Ort Oberbettingen, ein “Bedarfshalt”, wie im Fahrplan der Bahn zu lesen ist. Also ich habe Bedarf und bin die Einzige, die in Oberbettingen aussteigt. Das Bahnhofsgebäude hatte auch schon elegantere Zeiten erlebt. Jetzt steht es leer.
Die Kyll ist das bedeutendste Gewässer der Gegend, bei Trier erreicht sie die Mosel. Die Bahnlinie verläuft größtenteils parallel, zahlreiche Brücken gibt es auch über die Kyll. Nachdem ich die Landstraße hinter mir gelassen habe, schlage ich den Wanderweg nach Bolsdorf ein. Die erfrischende Kühle des Auenwaldes ist angenehm an dem heißen Augusttag.
Die Bilder, die ich in diesem Blog zeige, sind bei zwei Touren im Abstand von einem Jahr entstanden. Im vergangenen Jahr hatte ich leider das Pech, den Bolsdorfer Bach mit den Resten einer Schlammlawine vorzufinden. Jetzt bin ich schon gespannt, ob das Wasser wieder schön fließt. Erst einmal mache ich am Kyllradweg zwischen den Feldern eine kleine Pause. Es ist wie eine Meditation, den Wolken beim Drehen, Weiterziehen und Auflösen zuzusehen.
So artenreich scheint die Gegend auf den ersten Blick nicht zu sein. Aber über mir zieht ein Rotmilan seine Kreise, ein Rebhuhn flattert aus einem Maisfeld, ein Feuersalamander verzieht sich in einen Graben, ein Kaisermantel lässt sich kurzzeitig auf meinem Ärmel nieder. Alles geht so schnell, dass ich keine Zeit zum Fotografieren habe. Nur die Kröte denkt sich, ich hätte sie nicht gesehen und bleibt sitzen. Die Schlehen werden blau, schmecken aber noch extrem sauer.
Ich erreiche den Bolsdorfer Bach. Das Wasser gluckert! Von Ferne höre ich Männerstimmen, die sich rasch nähern. Ein Radfahrer! Nur EIN Mann! Ein großer Mann auf einem großen Fahrrad mit einer großen Stimme. Er telefoniert. “Ich habe heute zwei neue Kunden gewonnen, ” sagt er. Ja, schön für ihn, weiß ich das auch jetzt.
Im Wald rechts und links des Weges liegen immer wieder dicke Felsbrocken. Ich kann mir vorstellen, dass vor hunderttausend Jahren (auf die genaue Zeit will ich mich nicht festlegen) Felswände wie dicke Barrieren standen, durch die sich der Bach langsam fraß. Die dicken moosbewachsenen Steine im Bachbett sind die Reste davon. Im vergangenen Jahr hatte man den Bach im Oberlauf gestaut, gereinigt und dann in einem Schwung das ganze Wasser abgelassen, was eine dicke Schlammschicht im Bachbett und an den Ufern produzierte. Als ich wenige Tage später ankam, war der Bach keineswegs fotogen.
In diesem Jahr gibt es keine störende Schlammschicht, es hat auch zuvor geregnet, und so fließt das Wasser gurgelnd und glucksend über die Steine. Damit das Wasser richtig strömt, habe ich das Stativ für Belichtungszeiten von mehreren Sekunden mitgenommen. Überbelichtungen will ich auch nicht, deswegen setze ich einen Graufilter ein.
Ich kenne auch andere Bilder von dieser Stelle, die sehr viel mehr Wasser zeigen. Wäre ein Stand mitten im Bachbett noch besser? Oder wenigstens auf der flachen Uferbank? Haben die anderen Fotografen getrickst und heimlich einen Wasservorrat oberhalb der Stelle ausgekippt? Noch länger belichtet? War die Aufnahme bei strömendem Regen entstanden? Ich denke, wenn ich nochmals herkomme, dann wäre es zu zweit besser. Dann kann eine(r) unten stehen und sich die Materialien anreichen lassen. Aber erst einmal habe ich ja eine Aufnahme, wie ich sie mir gewünscht habe.
Während ich fotografiere, kommen – für einen Wochentag – zahlreiche Spaziergänger und Radfahrer vorbei. Und ein orangenes Fahrzeug von der Stadtreinigung, die Mülleimer müssen geleert werden. Ich packe das Stativ zusammen und setze meinen Weg fort.
Nach etwa 300 Metern erreiche ich schon die ersten Wohnhäuser und das kleine Museum, das jetzt aber geschlossen ist. Durch das große Seitenfenster kann man in eine alte Schusterwerkstatt gucken.
Der Ort ist rasch durchquert, ich folge dem Bachlauf bis zur Kyll.
Im seichten Uferbereich durchschwärmen hellbraune, durchscheinende, etwa 2cm kleine Fische das klare Wasser.
Ich folge dem Weg über den Fluß und wenige Meter darauf führt er in einem geschwungenen Brückenbogen über die Bahnlinie und die Landstraße. Schon bin ich an der Kirche, die für den 300 Seelen-Ort recht großzügig bemessen ist. Leider ist der Seiteneingang geschlossen, das Hauptportal ebenso. Ich will schon wieder weitergehen, da ruft ein Mann von der anderen Straßenseite mir zu: “Soll ich Ihnen die Kirche aufschließen, dass Sie mal hereingucken können?” Ich überlege, dass ich den Zug um 18 Uhr sowieso nicht mehr bekommen werde, und lasse mir die Kirche aufschließen. Und ich darf auch fotografieren!
Ich freue mich über die farblich lebendige Ausgestaltung der dreischiffigen Kirche, und Herr Remer, dem meine Begeisterung Freude bereitet, lädt mich ein, auch die Orgelempore zu besteigen. Die Wendeltreppe hat ein solides Geländer.
Dass die Orgel eine Klais-Orgel aus dem Jahre 1949 ist, hat mir Herr Remer nicht gesagt, ich habe es später nachgelesen. Er lässt mich auch einen Blick in das Innere des Gehäuses werfen, und ich sehe Zinn- und Holzpfeifen. Das Uhrwerk der alten Turmuhr ist nicht mehr in Betrieb, aber immer noch ein schöner Anblick! Wenn ich gewollt hätte, dann hätte ich auch noch die drei Glocken oben im Turm besichtigen dürfen, das mache ich vielleicht tatsächlich ein anderes Mal.
Herr Remer berichtet, dass am Wochenende, gerade jetzt in der Corona-Zeit, viele Städter in die kleinen Dörfer kommen und es dann lauter als wochentags ist. Und die Leute sehen sich nach alten Häusern um, die sie kaufen wollen. Da ist eine Gentrifizierungswelle zu befürchten!
Ich folge dem Verlauf der Hauptstraße und biege dann links ab, um auf Waldwegen den Bahnhof Oberbettingen zu erreichen. Erst einmal geht es steil bergan. Kein Mensch begegnet mir, aber das Rauschen der Landstraße hört man bis hierhin. Ich habe in den letzten Wochen viele Waldschäden gesehen, besonders an Fichten. Dieser Fichtenwald hat noch starke, gut benadelte Stämme, und es gibt sogar jede Menge kleiner Jungpflanzen! Allerdings bin ich inzwischen auch wieder auf einer Höhe von 500 Metern, und hier sind auch die besseren Wachstumsbedingungen für Fichten als im Flachland. – Die Sonne steht schon tief, aber ich habe meine Stirnlampe zu Hause gelassen.
Ob ich wohl innerhalb der nächsten halben Stunde den Bahnhof erreiche? Der Weg windet sich, und immer wieder Bäume, Nadelbäume, auf inzwischen wieder 450m Höhenmetern gibt es einen Mischwald, der forstwirtschaftlich genutzt wird. Da – Frauenstimmen! Oberbettingen wird doch nicht mehr weit sein. Nach der nächsten Biegung sehe ich sie, die Frau mit dem kleinen weißen Hund an der Leine. Der Hund sieht nicht sehr sportlich aus, also kann der Weg nicht mehr weit sein. Übrigens begegnet mir nur eine Frau. Sie hat ihr Handy auf volle Lautstärke gestellt und diskutiert mit ihrer Freundin ihre Beziehungskiste durch.
Die ersten Häuser habe ich erreicht. Ich kann noch einen grasigen Pfad zwischen zwei Häusern zur Abkürzung benutzen und bin um 19.02 Uhr am Bahnhof. Der Zug geht um 19.05 Uhr. gerade so geschafft! Aber Hilfe – wo ist meine Mund-Nase-Bedeckung? Irgendwo im Wald muss ich sie verloren haben. Kurzerhand nehme ich mein Strickzeug und binde mir das halbfertige Teil um. Ich kann jetzt zwar nicht weiterstricken, komme aber nun gut mit der Bahn nach Hause.
Die Wanderstrecke habe ich auf Komoot öffentlich gemacht, fals noch jemand die Runde laufen möchte. Bitte kopieren und in den Browser einsetzen. Viel Spaß bei eigenen Erkundungen!
https://www.komoot.de/tour/242931332